Luka Peters

Notizen aus den Weiten des Menschseins

Essay: Zwischen Kohlenstoffwelt und Mikroprozessor

“Seit ich ChatGPT benutze, bin ich in der Lage, Theaterstücke zu schreiben.” Ein Satz[1], mit dem unmittelbar die beiden Emotionsebenen fühlbar werden, die angesichts der aktuellen Entwicklungen rund um maschinell erzeugte Inhalte anschwellen: Da sind die Euphorischen, die von den “revolutionären” Fähigkeiten artifizieller Intelligenz, von den grenzenlosen kreativen Möglichkeiten schwärmen und einen Innovationsschub kommen sehen. Ihnen stehen die Entsetzten gegenüber, durchgerüttelt von der Angst, nicht nur ihre Arbeit, sondern sogar ihr Menschsein zu verlieren. Die Aufregungsmaschine läuft, ihr Treibstoff ist das Reizwort “Künstliche Intelligenz”. Der Begriff reiht sich geschmeidig ein in eine Gruppe anderer, die in den letzten Jahrzehnten unser Vokabular erweiterten:  Vernetzte Welt, Informationszeitalter, Dienstleistungsgesellschaft, Wissensgesellschaft, digitale Transformation.

KI regt allein schon durch ihr Vorhandensein, durch ihre theoretische Verfügbarkeit die Kreativität der Menschen an, indem sie von Utopien und Dystopien fantasieren. Chancen, theoretische und praktische Möglichkeiten, ethische Fragen und politische Herausforderungen bilden einen reichhaltigen Nährboden. Darauf wächst eine lebendige Kultur, im Spannungsfeld von Zukunftsvisionen und Existenzangst. Diese beiden scheinbaren Antagonisten haben zumindest eines gemeinsam: Sie veranlassen Menschen zur Lösungssuche. Fragen zu Arbeit, Urheberrecht, Demokratie, Teilhabe, Gerechtigkeit und Ethik, zu Ökonomie und Ökologie werden auf der Matrix vernetzter Algorithmen diskutiert. Wie lauten die Antworten? Welche Lösungsansätze gibt es? Noch stehen wir am Anfang des gesellschaftlichen Prozesses[2], aber es lässt sich gut beschreiben, was jetzt schon zu sehen ist und was sich in kurzer Frist entwickeln wird.

Auf dem Weg zur naturidentischen Kreativität

GPT wurde von OpenAI, den Entwickler:innen der KI, mit 490 Milliarden Datensätzen trainiert, gewonnen aus den Tiefen des Internets. Wie sich Anfang 2023 herausstellte, ohne auf Urheber- bzw. Nutzungsrechte zu achten. Die Werke bekannter Künstler:innen, ob lebend oder tot, wurden zur Blaupause für die KI. Verlangen Sie von ChatGPT einen Text über das raue Leben eines Seefahrers im Stil von Ernest Hemingway, bekommen Sie von der KI etwas geliefert – Literaturwissenschaftlerinnen werden darüber lächeln, aber für andere könnte es authentisch genug wirken. Sie möchten mit Hilfe der KI ein Bild generieren, das im Stil einer zeitgenössischen Künstlerin erscheint? Sagen wir Jenny Saville? Klar, kein Problem – für die KI. Aber wie ist das für die Künstlerin? Die ist raus aus der Wertschöpfungskette, in der ihre Bilder den Lebensunterhalt für sie generieren. Im nächsten Schritt könnten Sie mit einer spezialisierten KI das Bild so stark hochskalieren, dass es als Poster gedruckt und verkauft werden kann und die imitierte Künstlerin hätte derzeit (Stand Ende 2023) keinen Anspruch auf einen Anteil.

Der Ausschluss aus der Wertschöpfungskette ist einer der Gründe, warum sich Kunstschaffende aller Sparten durch künstliche Intelligenz bedroht fühlen. Manche Künstler:innen fürchten aber auch den Tag, an dem KI selbsttätig genuine Werke erschafft, die Menschen bewegen, berühren. Macht das menschliche Kunstschaffende überflüssig? Reicht dann eine menschenähnliche Intelligenz, so wie naturidentische Aromen in Lebensmitteln die natürlichen emulieren und ersetzen? Bisher gilt es als unerlässlich, Schmerz, Glück, Ekstase und vieles mehr fühlen zu können, um authentische, ansprechende Kunst zu produzieren. Ist es reine Science-Fiction, dass neuronale Netze in ihren Mikroprozessoren eines Tages diese Gefühle empfinden können? Ist Kreativität tatsächlich etwas, das den Menschen einmalig macht oder auf der Ebene der Chemie betrachtet: Ist Kreativität an den Kohlenstoff gebunden? Vielleicht ist Kreativität aber ein universelles Prinzip, das als solches überall entstehen kann – somit auch in den Prozessoren auf einer Platine.

Atelierkollege KI

KI kann zwar zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht originär kreativ sein, aber man kann mit ihr verblüffende Imitate schaffen. Und ja, auch neue Interpretationen. Das ist der Punkt, an dem die Beurteilung von KI in der Kunst zweischneidig wird, denn die Künste existieren nicht in erster Linie als ökonomisches Modell. Der kreative Impuls wird in der Konfrontation mit einem den Menschen berührenden Thema geboren und macht die Auseinandersetzung damit sicht- und spürbar, nachvollziehbar. Das kann KI als maschinelles Statistikmodell bis zu einem gewissen Grad nachahmen, aber nicht unabhängig herstellen. Andererseits integrieren Kunstschaffende heute schon KI in den künstlerischen Prozess, um ihre Vision sichtbar zu machen. Jonas Wyssen ist einer der Künstler, die visuelle KI nutzen, um Bilder zu erzeugen, die genau diesen Widerspruch thematisieren: Was ist Original, was Interpretation und wieviel Mensch braucht es? Andere Kunstschaffende programmieren ihre eigene Text-KI und trainieren sie mit selbst ausgewählten Korpi, um mit ihr gezielt literarisch zu arbeiten. Videokünstler:innen tauschen auf CivitAI selbst entwickelte Open-Source-Modelle aus, mit denen sie die offiziellen Grenzen des Machbaren der Bild-KI Midjourney sprengen. Kreative aller Branchen und Berufe lassen sich inspirieren von der Technologie und nutzen sie gezielt als Werkzeug, um neue Methoden und Stile zu erschaffen.

Von Goldgräbern und Abgehängten

Und dennoch, man darf es nicht kleinreden: Viele Berufe werden sich radikal verändern, einige werden verschwinden, gerade auch in den sogenannten Kreativberufen. Bereits jetzt gehen die Aufträge an Werbetextende zurück und Grafiker:innen befürchten den Einbruch ihrer Einnahmen. Ghostwriter müssen ihr Angebotskonzept schärfen, denn zuhören und zeit- sowie typgemäss transkribieren kann eine KI schneller und billiger. Alles, was ohne große Denkarbeit, ohne besondere kreative Investition gemacht werden kann, wird die KI übernehmen. Die Mittelmäßigkeit des Mainstreams haben GPT und andere Text-KI aus den Trainingsdaten gelernt und können sie locker reproduzieren. Für die wöchentliche Produktion von Heftromanserien werden Verlage zukünftig auf KI setzen und Autor:innenhonorare einsparen. Text-KI spuckt schon heute Ratgeberbücher im billigen Akkord aus und Kurznachrichten sind oft nicht von Journalist:innen formuliert. Elke Höfer, Assistenzprofessorin für Mediendidaktik und Sprachendidaktik, prognostiziert, dass es „schon im Jahr 2025 möglich sein [wird], populärwissenschaftliche Sachbücher und Ratgeber, etwa im gehobenen Precht-Stil, komplett durch eine KI erstellen zu lassen, ohne dass viel Nachbearbeitung nötig ist.“[3] Voraussetzung sei, dass die Sprachmodelle eine Life-Schaltung zum Internet hätten. Ich frage mich, ob ein Publizist wie R.D. Precht das als Bedrohung seiner personengebundenen Marke betrachtet oder als Chance, noch schneller und preiswerter Bücher zu produzieren.

Abgehängt werden im Zuge dieser schnellen Entwicklungen diejenigen, denen es nicht möglich ist, sich umschulen oder sich ein neues Geschäftsmodell einfallen zu lassen. Für die es undenkbar ist, eine neue Aus- oder Weiterbildung oder ein Zusatzstudium zu absolvieren. Viele werden sich an die Situation in den 1990er/2000er Jahren erinnert fühlen, als PC und Internet in den Alltag etlicher Berufsgruppen einzogen und in hohem Tempo massive Veränderungen forcierten. Lehrende an Schulen und Hochschulen gehörten damals zu den stark Verunsicherten. Die Diskussionen folgen heute wieder einem ähnlichen Muster. Auf der einen Seite finden wir die Optimist:innen, für die die KI ein Ausweg aus einer eingefahrenen und fehlgeleiteten Schulbildung und Hochschulpolitik ist. Gerne wird in dieser Meinungsgruppe der Schulterschluss mit Vertretern der Wirtschaft geübt, die ihrerseits auf Einsparungen in der Produktion und steigende Renditen hoffen, wenn sie über Künstliche Intelligenz sprechen. Die vermeintliche Gemeinsamkeit zwischen Bildung und Wirtschaft wird konstruiert in der Vorstellung von KI als disruptiver Technologie, mit der irgendwie alles besser gemacht werden kann als bisher. Ihnen stehen jene gegenüber, die sich am Horizont ersetzt sehen durch Technologie im weitesten Sinne. Dieser Menschengruppe stehen außer warnenden Worten und düsteren Zukunftsszenarien für ihren Bildungsauftrag und die Gesellschaft nichts allzu Mitreißendes zur Verfügung. Man wird sich in 20 Jahren an sie erinnern und sagen, dass sie doch nicht ganz Unrecht hatten in dem einen oder anderen Punkt, den man vielleicht ernsthaft in Erwägung hätte ziehen sollen. Aber warnen ist eben so viel weniger sexy als jubeln.

Die Abgehängten aber, die Massenprodukt-Autor:innen, die Werbetexter, die Gebrauchsgrafiker:innen und einige andere, deren Arbeit schon bald tatsächlich durch KI erledigt wird, können so viel denken und grübeln und suchen und warnen, wie sie wollen, die KI-Branche wächst an ihnen vorbei.

Und wie sie wächst! Keine Branche legt derzeit so stark zu, ihr Wachstum wird auf mehrere hundert Milliarden US-Dollar jährlich prognostiziert. Unzählbare Unternehmen sind seit Januar 2023 allein im deutschsprachigen Raum aus dem Nichts hervorgeschossen: AI-Academy, Prompt-Akademie, Prompt-Gym , KI-Starter, KI-Knowhow[4] und ähnlich illustre Namen geben sie sich. Sie versprechen in erster Linie, ihre Kund:innen fit zu machen im Umgang mit den KI-Tools. Es ist eine Goldgräberstimmung ausgebrochen, hektisch rafft man die paar Kenntnisse zusammen, die man in der kurzen Zeit sammeln konnte und stellt sich im Social-Media-Stil mit großen und lauten Worten als Experte, als Expertin für KI dar. Schon bald wird der Markt übersättigt sein und Übernahmen sowie Insolvenzen den Wildwuchs lichten. Bis dahin dürfen wir uns erfreuen an diesen flackernden, bunten Lichtern menschlichen Erfindungsreichtums.

Gesellschaft im Spiegel

Was kommt dann? Ernüchterung? Normalisierung? Welche Normen birgt dieses neue “normale” Leben mit KI? Kommt nun doch die oft versprochene Demokratisierung der Datenströme, des Wissens, der Kunst und allem anderen? Schon jetzt ist das “Open” in OpenAI nur noch der Nachhall eines Ideals, seit das Unternehmen mit einem umstrittenen Trick ihre KI-Produkte kommerzialisiert hat und die Nutzung kostenpflichtig ist. Die KI-Tools anderer Firmen sind  ebenfalls kostenpflichtig, wenn man ihr volles Potential nutzen und nicht nur mit ein paar Funktionskrümeln herumspielen will. Somit ist die Nutzung bereits auf diejenigen Menschen begrenzt, die den technischen Zugang, Geld und Zeit zur Verfügung haben.

Die Beschränkung beginnt jedoch auf einer tieferen Ebene. Eine KI hat keine Moralvorstellungen, kennt Ethik nur als philosophisches Konzept. Sie differenziert Menschen nicht nach Geschlecht, Hautfarbe, Religion oder sexueller Identität, denn alle diese Begriffe sind nichts weiter für sie als Worte. Worte, die in bestimmten Kontexten auftauchen oder eben nicht. Kontexte die von Menschen geschaffen wurden. Kontexte und Diskurse, die geprägt sind von Wertvorstellungen, Haltungen und Meinungen. All das manifestiert sich in den trillionenfachen Texten, Bildern, Audiodaten und Videos, die wir Menschen im digitalen Netz hinterlassen. Die Masse des Internetcontents wird von denen produziert, die wiederum die technischen Ressourcen, Geld und Zeit zur Verfügung haben. Privilegierte Menschen also, und die sind in unserer Welt heute immer noch vorwiegend weiß, cis-männlich und heterosexuell, rassistische Vorurteile und konservative Werte inklusive. Lernende Text- und Bild-KI wird mit diesen vorbelasteten Datensätzen aus dem Netz trainiert. Wenn die Attribute wie weiß, schlank, eindeutig feminine oder maskuline Körper ohne Behinderung die Masse der Daten bestimmt, kann das für ein statistisches Modell wie unsere derzeitigen KIs nur die Norm begründen. „Der Bot plappert einfach nach, was am häufigsten im Internet gesagt wurde“, kommentiert Claus Beisbart, Professor für Wissenschaftsphilosophie.[5]

Wir erkennen bestürzt, dass die virtuellen Maschinen unsere Machtverhältnisse und Vorurteile reproduzieren. Was sie hervorbringen, ist ein erbarmungsloser Spiegel gesellschaftlicher Zustände.

Schon deshalb wird Künstliche Intelligenz uns Menschen das Denken nicht abnehmen. Die Verantwortung für ihre Einsatzbereiche und Produkte liegt bei uns. Es liegt an den Menschen, in den Spiegel zu schauen, die Verzerrungen zu erkennen und zu beseitigen. Es liegt auch in unserer Hand, welche Zukunft unsere Gesellschaft mit KI haben wird, denn eine ohne KI wird es nicht geben. Die Rufe nach gesetzlicher Regulierung sind entsprechend da, jetzt, nachdem sowohl die erste Euphorie als auch der erste Schock sich gelegt haben. Es ist höchste Zeit, Mittel zu finden, mit denen die Technologie kontrolliert werden kann, ohne ihre positiven Effekt zu ersticken. Die Mitgliedsstaaten der EU haben sich Ende 2023 auf erste Vorschriften für KI-Unternehmen einigen können, hauptsächlich zum Schutz von Personendaten. Die politisch Verantwortlichen haben dem Thema trotzdem noch nicht die notwendige Aufmerksamkeit gewidmet und überlassen es den Unternehmen, sich selbst zu regulieren. New situation, same old mistakes.

Hinweis: Dieser Essay wurde zuerst im Dezember 2023 in der Anthologie „Die letzten Tage des menschlichen Denkens“, Hrsg. Therese Bauer, Vienna Academic Press, veröffentlicht.


[1] Aus dem Bühnenstück “Es kann doch nur noch besser werden” von Sibylle Berg

[2] Dieser Text wurde im Oktober 2023 geschrieben, ein Jahr nach dem ChatGPT, Stable Diffusion und einige andere KI-Tools öffentlich zugänglich gemacht wurden.

[3] „Ab wann kann die KI mich als Autor ersetzen?“, in: Federwelt Nr. 162, Oktober 2023, S. 20f

[4] Alle hier gelisteten Namen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten zu real existierenden Unternehmen sind zufällig und berühren daher keine Rechte

[5] “Wir sollten Mensch und KI nicht gegeneinander ausspielen”, in: Horizonte Nr. 137, Juni 2023, S. 20f


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