Luka Peters

Notizen aus den Weiten des Menschseins

Der Klon, Teil 6: Ohne Strom nichts los

Mein Plan umfasste 3 Schritte und ich hatte dabei mindestens eine sehr schwierige Hürde zu überwinden. Als erstes war die zentrale Prozessorplatine des Systemrouters dran. Mit zwei schnellen Schritten erreichte ich den Feuerlöscher. Sein Schaum war speziell für einen Elektronikbrand ausgelegt und isolierte alles, was damit besprüht wurde. Ich riss ihn aus seiner Wandhalterung und schon auf dem Weg zum Router brach ich Siegel und Hebelsperre des Feuerlöschers. Die Abdeckplatte des Routers an der Wand war zum Glück nicht mit Schrauben montiert, sondern nur aufgesteckt. Schon hatte ich sie mit einer Hand entfernt, hob den Feuerlöscher, trat einen Schritt zurück, zielte und drückte den Hebel. Der hohe Druck, mit dem der Schaum den Behälter verließ, hätte mir beinahe den pistolenartigen Griff aus der Hand geschlagen. Die Platine und alle anderen elektronischen Bauteile wurden vollständig eingehüllt. Lautes Zischen und einige Funken bestätigten die Wirksamkeit und in Sekundenschnelle verfestigte sich der Schaum zu einer festen Masse.

Sofort ließ ich den Feuerlöscher fallen und eilte weiter. In einem kleinen Raum, den man in früheren Jahrhunderten wahrscheinlich als Besenkammer genutzt und bezeichnet hätte, stand das Notstromaggregat. Im Hintergrund hörte ich den Klon bereits schreien: „Was tust du da? Höre sofort auf!“ Für einmal fühlte ich mich dem Ding überlegen, denn immerhin hatte er keinen physischen Körper, den er mir entgegenwerfen konnte. Einer Variante des „Terminators“ gegenüber wäre ich völlig hilflos gewesen. So aber verifizierte ich mich ohne Verzögerung am Notstromaggregat. „Authentifizierung abgelehnt“ las ich auf dem Bildschirm. Der Mistkerl hatte also meine biometrischen Daten gelöscht. Aber was er nicht wusste: Es gab eine geheime mechanische Not-Aus-Funktion. In der Wand war eine fast unsichtbar eingelassene und nur mit einem Papierstreifen abgedeckte Nische eingelassen, und in dieser befand sich ein kleiner Schlüssel. Ich riss ihn aus seinem Versteck, quetschte mich halb in den engen Zwischenraum zwischen Aggregat und Mauer und steckte den Schlüssel in das ebenfalls unter einer Klappe versteckte Schlüsselloch auf der Rückseite des Gerätes. Eineinhalbmal umdrehen und das Aggregat war deaktiviert.

Nicht nur wegen der Hitze und Enge im Raum lief mir der Schweiß das Gesicht herab. Trotzdem durfte ich keine Sekunde verlieren und lief wieder los. Ich schnappte mir aus der Küchenschublade zwei stabile Messer und sprang wie ein Olympionike im Dreisprung zur zentralen Stromversorgung hinüber. Sie war direkt neben der Eingangstüre montiert, ihre Türe sah recht massiv aus und konnte nur vom Servicetechniker der Hausverwaltung mittels seiner biometrischen Daten geöffnet werden. Es war mir schon immer ein Rätsel gewesen, warum eine Hausverwaltung so etwas machte. Auch deshalb hatte ich das Notstromaggregat gleich nach meinem Einzug installieren lassen. Ich ließ eine Messerklinge in den schmalen Spalt der Abdeckung gleiten und hebelte. Nichts bewegte sich. Im Hintergrund hörte ich wieder den Klon irgendetwas rufen, aber ich ignorierte ihn – was immer er jetzt noch zu sagen hatte, interessierte mich nicht mehr. Mit ganzer Kraft hebelte ich mit dem Messer und allmählich bog sich das Metall der Türe etwas. Nun setzte ich auch das zweite Messer an der Tür des Sicherungskastens ein. Mit einem Fuß gegen die Wand drückend, legte ich mein ganzes Körpergewicht in die Aktion. Schließlich war eine Ecke der kleinen Türe so weit aufgebogen, dass ich den FI-Schalter sehen konnte. Meine Finger passten so gerade in die entstandene Öffnung. Ich erreichte den Schalter und drückte ihn. Augenblicklich wurde es totenstill in meiner Wohnung. Das Licht im Wohnzimmer war erloschen, aus dem Arbeitszimmer drang kein Laut herüber, und als ich dorthin schaute sah ich auch keines der gewohnten Funktionslichter. Das unterschwellige weiße Rauschen der smarten Kücheneinrichtung war verstummt.

Erschöpft rutschte ich mit dem Rücken an der Wand zu Boden. Mir war schon in diesem Moment klar, dass ich nicht schnell genug gewesen war. Der Klon hatte bestimmt ein Backup – oder mehrere – von sich in der Cloud abgelegt. Meine einzige Hoffnung war, dass ich die Veröffentlichung des Buchmanuskripts verhindert hatte.
Lange währte die Ruhe nicht. Ich hatte mein Kommunikationsimplantat nicht ausgeschaltet und erhielt eine Nachricht von T.R.Y: „Wir sind sehr besorgt. Es besteht der Verdacht, dass unser Eigentum, Klon von Luka Peters, beschädigt worden ist. Nach Paragraph 23a des Gesetzes über das Recht auf Unversehrtheit digitaler Entitäten sowie Paragraph 2c des Gesetzes zum Schutz geistigen Eigentums müssen wir untersuchen, ob Sie sich einer Straftat schuldig gemacht haben.“ Ein Kälteschauer lief mir die Wirbelsäule hinab. War ich in meiner Technikbegeisterung tatsächlich so nachlässig über das Kleingedruckte im Vertrag hinweggegangen?
Endlich deaktivierte ich das Implantat – heute bin ich froh, dass das zu dieser Zeit noch möglich war. Mir war bewusst, dass ich nur eine kurze Verschnaufpause hätte, bevor die Strafverfolgung einsetzen würde. Noch während ich ein paar Kleinigkeiten zusammensuchte, die ich mitnehmen wollte, hörte ich bereits Stimmen vor der Wohnungstüre: „Hier ist die Polizei. Öffnen Sie die Türe.“ Diese Phase hatte ich mir nicht vorher überlegt, aber es gab ohnehin nur einen Ausweg. „Herr Peters, öffnen Sie sofort die Türe oder wir verschaffen uns Zutritt“, hörte ich. Das Zutrittverschaffen würde allerdings ein paar Minuten dauern, das sollte reichen für meinen Vorsprung. Ich öffnete im Badezimmer den Wäscheschacht. Ach, hatte ich das noch nicht erwähnt? Zu den Annehmlichkeiten meines teuren Appartements gehörte auch die von unbekannter Hand gewaschene und gebügelte Wäsche. Ich musste lediglich alles zu Waschende in den Schacht werfen und am nächsten Tag lag ein Päckchen vor meiner Wohnungstüre. In diesem Moment gab es für mich nur diesen Weg hinaus aus dem Appartement und ich hoffte inständig, dass die Polizei sich wieder einmal als dümmer herausstellte, als sie eigentlich sein dürfte.

Wenn ich heute, einige Monate nach diesen Geschehnissen zurückblicke, wundere ich mich über das Glück, dass ich trotz allem hatte. Das Buch ist nicht veröffentlicht worden und so sind die Peinlichkeiten meiner Familien Privatsache geblieben. Freilich suche ich, wann immer ich unentdeckt dazu Gelegenheit habe, nach Kopien des Manuskripts in der Cloud. Meistens finde ich sie auf leicht zu hackenden Servern, wo ich den Entwurf einfach löschen kann. Aber wie viele Kopien gibt es? Es können tausende sein und es ist nur eine Frage der Zeit, bis es jemand skandalös genug findet, um es gezielt zu veröffentlichen. Vielleicht wird mein digitaler Klon irgendwann dieses Projekt durchführen. Oder wurde er von seinen angeblichen Besitzern, der Firma T.R.Y. – The Real You, deaktiviert? Können sie das überhaupt? Wie viele Backups von sich hat der Klon in die Cloud geladen?

Wenn ich über alle diese Fragen ernsthaft nachdenken würde, wäre ich schon längst wahnsinnig geworden. Während im frühen 21. Jahrhundert Identitätsdiebstahl noch von Kriminellen im Darknet betrieben wurde, um Kreditkartendaten zu stehlen, haben Firmen wie T.R.Y. eine viel elegantere Form dieses Geschäfts gefunden: Ihre Opfer liefern ihnen ihre Identität freiwillig aus und zahlen noch dazu sehr viel dafür.
Deshalb unterstütze ich aus dem Untergrund heraus Menschen dabei, ihre Identitäten wieder aus den Fängen von T.R.Y. und ähnlichen Firmen zu befreien. Oder gar nicht erst auf deren „Produkte“ hereinzufallen.
Eine positive Sache konnte ich dennoch aus dem unschönen Erlebnis mit meinem digitalen Klon mitnehmen: Da ich nun, im Untergrund lebend, wenig Besitz, keinen festen Job, aber viel Zeit habe, schreibe ich Geschichten.

Ich hoffe, sie gefallen dir. Wenn ja, unterstütze mich mit ein paar Coins.

[kofi]

(Bilder: KI-generiert; Text: Mensch-generiert)

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